Cho Oyu, 8201m (Tibet/Nepal)

Teil 2: Basecamp - Akklimatisation - Gipfelgang - Basecamp

Jetzt heißt es: fertig machen zum Big Anschiss! Also, runter zum Lager, an den Spaniern vorbei und zum Amical-Camp. Immerhin ist kein Galgen aufgebaut worden. Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Glückwünsche ich von den Spaniern bekommen habe – von meiner Gruppe gab’s jedenfalls keine. Ein paar verziehen sich in ihre Zelte – wie man das bei Sturmwarnung eben macht... Die gefühlte Temperatur ist innerhalb von 10 Metern schlagartig gefallen. Wenn ich ein Gruppenmitglied in ein Gletscherspalte gestoßen hätte, wären die Blicke wahrscheinlich nicht wesentlich unfreundlicher. Ein gedämpfter alpenländischer Grantelmix ist zu vernehmen, aber es ist wohl vorher entschieden worden, dass nur der Gruppenführer das Recht zum Erstschlag hat. Der kommt dann auch ausführlich und heftig - aber insgesamt kann ich wohl froh sein, dass er von D. kommt und nicht von H.-J., E. oder H. . Aus seiner Sicht als Expeditionsleiter hat D. natürlich in allen Punkten recht. Es ist auch seine erste 8000er-Tour und ich kann mir denken, dass man da auch als Leiter besonders unter Strom steht. Ich erfahre, dass bereits gestern Abend ein Suchtrupp zum Depotlager auf 6000m hochgeschickt worden ist, den ich natürlich zu bezahlen habe, dass ich auf Gröbste gegen die vereinbarten Zeitregeln verstoßen habe und dass ich ab sofort bei Amical auf der roten Liste stehe. Das sieht nach einer entspannten Atmosphäre bei der Rückreise nach Kathmandu aus. Natürlich könnte ich jetzt sagen, dass der Suchtrupp offenbar gar nicht bis zum Depotlager aufgestiegen ist, weil sie sonst über mich hätten stolpern müssen, und dass mich gestern Verzögerungen an den Fixseilen alleine eine Stunde gekostet haben. Um die Situation richtig aufzupeppen, könnte ich natürlich auch die Gruppe zusammenrufen und dann verkünden: „Ihr wart ja nicht mal auf dem richtigen Gipfel!“ Mein Selbsterhaltungstrieb weiß jedoch zu verhindern, dass an den 8000ern ein weiteres Opfer zu beklagen ist. Ich schlucke erst mal brav alles runter und schleiche zu meinem Zelt, setze mich auf einen Stein und schaue mir ganz genau den Boden vor mir an. Man lässt mich in Ruhe, immerhin. Und bei aller Zerknirschtheit ist da doch auch eindeutig der Gedanke: „Shice drauf!“ Natürlich war es vollkommen richtig, auch nach der Umkehrzeit noch zum Gipfel zu gehen. Das Risiko eines Wettersturzes war nun wirklich nicht so groß. Lisa, die Spanierin, war gestern um 16h oben. Seit Tagen praktisch kein Wölkchen – auch heute nicht. Klar, dass ein kommerzieller Veranstalter da einen anderen Standpunkt haben muss. Aber wie würde ich jetzt hier sitzen, wenn ich tatsächlich gegen 12 umgekehrt wäre? Deprimiert und sauer! Und irgendwann wäre ich wohl wiedergekommen, hätte wieder Tausende Euros ausgegeben, hätte wieder vier Wochen im Geröll gehaust und mich wieder fünfmal den Killerhang rauf- und runtergequält. Und alles für die fehlenden 100 oder 200 Höhenmeter. Nein, nein, die Entscheidung war toprichtig! Hätte es vorgestern einen Wettersturz gegeben, wäre ich eventuell anderer Meinung - wenn ich überhaupt noch eine Meinung hätte. Natürlich war etwas Glück dabei, aber ohne geht's ja sowieso nicht. Irgendwann kommt Michi vorbei und raunt mir zu: „Egal, Hauptsache oben!“ - wenigstens einer, der mich aufmuntert. Das gemeinsame Abendessen wird noch mal ein Spießrutenlauf. Auch jetzt keinerlei Glückwünsche. Ich mache einen Fehler und erwähne die Verzögerungen an den Fixseilen. Nach 0,1 Sekunden vernehme ich von H.-J. den Kommentar: „Na, klar, jetzt sind natürlich die anderen Schuld!“ Dass E., der mir vorher sehr explizit das Recht abgesprochen hat, bei dieser Expedition dabeizusein, es nur bis 7500m geschafft hat, macht die Situation auch nicht entspannter. Die anderen denken sich ihren Teil. Ich bin froh, als ich mich wieder in mein Zelt zurückziehen kann – war doch alles recht viel heute. Wenn sich ein „8000er-Sieg“ so anfühlt, brauche ich das jedenfalls nicht noch mal. Im letzten Abendlicht schaue ich nochmal zum Cho Oyu. Was für ein schöner Berg! Ich gehe noch mal mit den Augen die Spur nach. Tja, es ist viel passiert in diesen fünf Tagen. Und langsam kommt die Erkenntnis, dass sich das wohl nicht wiederholen lässt, unabhängig davon, ob ich das will oder nicht. Die erste Achttausender-Tour macht man eben nur einmal. „Da oben bist du vorgestern rumgelaufen!“ - „Quatsch, red’ doch keinen Blödsinn!“ Zwei Stimmen in mir, die sich nicht einigen können. 'Ambivalente Gefühle' heißt das wohl. Ob es anderen auch so geht? Jedenfalls ist der Kopf offenbar in besserer Verfassung als der schlappe Restkörper. Egal, oben ist oben - das nimmt mir keiner mehr weg! Das Licht verlöscht - der Vorhang fällt...